Inklusive Kunstvermittlung und Masterplan in der Berlinischen Galerie
Am 23.09., 25.09., 26.09.2015 und 11.02.16
Mit Jovana Komnenic und Kate Brehme und Teilnehmenden aus den Bereichen Vermittlung, Marketing, Kuration, Ausstellungsdesign, technische Gestaltung
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Ein komplexer mehrtägiger Workshop, der durch den Wechsel zwischen theoretischen bis hin zu wissenschaftlichen Inputs mit praktischen Übungsteilen bestimmt war. Ebenso gemischt waren auch die Teilnehmenden: MitarbeiterInnen aus Vermittlung und Kuration ergänzt durch Gäste mit Seh- und Hörbehinderung und Gäste mit Lernschwierigkeiten. Insbesondere im zweiten Workshopteil, der sich stärker dem Schwerpunkt der Ausstellungsgestaltung widmete, waren außerdem KollegInnen aus dem Design und der technischen Gestaltung dabei.
In ihrem Anfangsvortrag zeigte die Sozialpädagogin Antje Barten wesentliche Etappen in der Entwicklung der Behindertenbewegung auf und skizzierte den wichtigen Wandel im Verständnis von Behinderung, der durch den Übergang von einem medical model zu einem social model markiert ist. Im ersteren Modell werden Menschen mit Behinderung, gemessen an einem Maßstab der „Normalität“, als „krank“, „in ihren Fähigkeiten eingeschränkt“. Das zweite Modell geht hingegen von einer behindernden und zu ändernden Lebensrealität in Form gesellschaftlicher, kultureller oder infrastruktureller Barrieren aus.
Anschließend zeigten die ModeratorInnen Kate Brehme und Jovana Komnenic best practice zu einer multisensorialen Praxis der Vermittlung und des Ausstellungsdesigns, beispielsweise das Projekt Creatability des MoMA in Ney York, ein Programm für Kinder und Erwachsene mit geistiger Behinderung und Lernschwierigkeiten und ihre Familien.
Bei einem Rundgang durch das Museum in gemischten Gruppen konnten die Teilnehmenden miteinander eine Bestandsaufnahme der Galerie beginnen . Fragen wie: Wie werden Informationen aufgenommen? Was behindert Besucher mit verschiedenen Bedürfnissen? wurden zum Anlass, um über Raumfarben, Schriftgrößen, Augenhöhe oder auch Lichtverhältnisse in Vitrinen zu diskutieren.
Der zweite Workshop-Tag wurde insgesamt bereichert durch die Anwesenheit des Fotografen Sven Kocar, der aus Gründen seiner Mobilitätseinschränkung mit Hilfe einer besonderen Arbeitstechnik fotografiert. Auch praktisch begann der Tag mit einem Perspektivwechsel in Gestalt eines Experiments mit dem Titel chain of interpretation. Im Wechsel zwischen den Teilnehmenden wurde ein nur tastbarer Gegenstand beschrieben und dann gezeichnet, anschließend auch die Zeichnung beschrieben und wieder gezeichnet. Im Verlaufe dieser Stillen Post entwickelte sich durch Färbung, Wahrnehmung und Interpretation (und die unterschiedlichen zeichnerischen Fähigkeiten) eine Bildkette, die die vermeintliche visuelle Eindeutigkeit des Gegenstands völlig auflöste.
David Permantier erläuterte anschließend zusammen mit Mitgliedern der Kunstwerkstatt der Lebenshilfe Berlin Wege und No Gos für Menschen mit Lernschwierigkeiten im Kunstmuseum. Gemeinsam mit den Teilnehmenden beschrieb und interpretierte er ein eindrucksvolles Kunstwerk aus dem Kontext seiner Gruppe.
In einem Kurzvortrag erläuterte Jovana Komnenic Beispiele für Kunst mit allen Sinnen, so das Deaf School project des British Museum, bei dem taube Kinder in Videos Kunstwerke wie z.B. antike Tempelanlagen oder Masken aus Polynesien in Gebärdensprache selbstsicher und überzeugend präsentieren. Am Nachmittag wurden die Teilnehmenden durch kurze Einführungen von PraxisexpertInnen so (Dietrich Petzold von tonus arcus, Rainer Delgado vom DBSV) in die Kunst der Aufbereitung von Audiodeskriptionen mit Hilfe einer Audiogestaltung nach Art eines Hörspiels und in die der Gestaltung von Tastexponaten eingeführt.
Das angestoßene Wissen konnte dann in einer praktischen Übung in Kleingruppen vor den Originalen der Ausstellung jeweils umgesetzt werden, wobei sowohl Tastbilder entstanden als auch Entwürfe für Hörfeatures.
Den theoretischen Einstieg in den dritten Workshoptag lieferte die Professorin für Kunstvermittlung an der Universität Oldenburg, Eva Sturm in ihrem Vortrag „Von Kunst aus“. Ausgehend von kunsttheoretischen Überlegungen von Deleuze, Guattari und Barthes, erläuterte sie an Beispielen den Moment der Kunstrezeption als ein Ereignis des blitzartigen Getroffenseins von Kunst, welches den normalen Fluss der Zeit beim Rezipienten unterbricht und bei ihm einen Denk- und Empfindungsprozess in Gang setzt. Folgt man dieser Interpretation, dann lassen sich Rezeption und Vermittlung eher nicht als Vorgänge denken, die von etwas Abgeschlossenem - hier Werk dort Übersetzer dort Rezipient – handeln. Vielmehr ist das Spannende und Besondere der Kunstrezeption, dass der Rezipient in einen unabgeschlossenen, offenen Prozess mit dem Werk tritt. In ihm setzen sich sozusagen die Geschosse der Kunst fort und machen ihn zu einem selbst sprechenden oder performenden Re-Akteur. Die Kunstrezeption wird im Hier und Jetzt zu einem eigenen Prozess und Ereignis mit offenem Ausgang.
Der sich anschließende Übungsblock in gemischten Kleingruppen versuchte diesen Gedanken der prinzipiellen Offenheit der Rezeption und der Re-Aktion des Rezipienten für das Thema inklusive Kunstvermittlung produktiv zu machen.
Gemischte Gruppen und besonders solche, in denen neben verschiedenen Erfahrungswelten und Wissensständen auch beispielsweise durch Seh- und Hörbehinderung gegebene Wahrnehmungsmodalitäten aufeinanderstoßen, haben zum Beispiel den Vorteil, eine große Fülle von Rezeptionsweisen zu bieten, die wiederum als Ressourcen genutzt werden können. Dazu kommen offizielle Informationen durch Experten wie Kunstführer oder in der Ausstellung vorhandene Objekttexte. Alle diese Ressourcen inklusive der durch spielerische oder gestalterische Aktionen zu erobernden Erkenntnisse und Erlebnisse sollten vor Originalen gemeinsam probiert, diskutiert und erschlossen werden. Welche Wahrnehmungsformen bringen welche Erkenntnisse, welche Vermittlungsmedien (Körpersprache, Material, Sprache, Spiel) funktionieren für welche Rezipienten und wie kann eine gemischte Gruppe möglichst kooperativ in den Vorgang einbezogen und zur eigenen Re-Aktion gebracht werden? Anhand dieser komplexen Fragestellungen entwickelten die Gruppen im Laufe des Tages modellhafte Ideen für möglichst multiperspektivische Vermittlungsformate vor einzelnen Werken. So wurden beispielsweise zusammen mit Grosz Selbstbildnis als Warner spielerisch Handhaltungen und ihre Wirkung inszeniert oder anhand des Werkes "Erzählung für W. Turner" von Fred Thieler überlegt und gestaltet, wie sich Farbrhythmen in klangliche und tastbare Übersetzungen umwandeln lassen.
Der letzte WS- Tag fand einige Monate später statt und konzentrierte sich vor allem auf den Schwerpunkt Ausstellungsgestaltung und Barrierefreiheit.
Bei einem Rundgang durch die Galerie konnten die Teilnehmenden zwischen verschiedenen behindernden Hilfsmitteln wählen. Wie sieht die Ausstellung aus der Perspektive des Rollstuhlnutzers aus? Wo wird es schwierig für Sehbehinderte? Die anschließende Zusammenschau ergab unter anderem, dass Sehbehinderung im Kontext der BG jedenfalls vor größeren Barrieren steht, wohingegen einige Exponate gerade aus der niedrigeren Perspektive des Rollstuhlfahrers sehr gut oder sogar besser wahrgenommen wurden. Die Teilnehmenden diskutierten anhand der gemeinsamen Erfahrung Wissenslücken bei der inklusiven Umsetzung von Design und mögliche Lösungen für einzelne Probleme, beispielsweise die Anschaffung eines höhenverstellbaren Rollstuhls, die stärkere Sensibilisierung für Kontrastwirkungen zwischen Sockel und Boden, die Bedeutung von 3D-Modellen für ein besseres Raumverständnis oder die Bereitstellung kommunikativer Lösungen schon im Empfang bis hin zum life speaker Konzept, wie es aus England bekannt ist.
Hilke Groenewold, Architektin für barrierefreies Bauen informierte über Grundprinzipien des design for all und unterlegte ihren Vortrag mit verschiedenen Praxisbeispielen aus anderen Kunstmuseen.
Im letzten Workshopteil waren wiederum gemischte Kleingruppen in der Ausstellung unterwegs, diesmal mit dem Auftrag für ein bestimmtes Beispiel, Möglichkeiten einer inklusiven Zugänglichkeit inklusive der konkreten Realisierungschancen zu diskutieren und zusammenzutragen.
Bei einer intensiven Abschlussdiskussion wurden Problemlagen wie die Gestaltung von Vitrinen oder Lichtverhältnissen in der Berlinischen Galerie aber auch die durch die Nutzung von Datenbanken und SmartPhones hinzugekommenen technischen Möglichkeiten detailliert ausgebreitet, wodurch auch wieder der Bogen zu den anfänglichen Einschätzungen der Teilnehmenden in der BG geschlagen werden konnte.
Text in Leichter Sprache
Kunst erklären für Personen
mit unterschiedlichen Behinderungen
Wer hat bei diesem Workshop teilgenommen?
An diesem Workshop haben teilgenommen:
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Abteilungen
Museums-Führung, Öffentlichkeits-Arbeit, Kuration und
Ausstattung und Technik für die Ausstellungen.
Außerdem haben Personen teilgenommen,
die unterschiedlichen Behinderungen haben:
- Sehbehinderungen
- Hörbehinderungen
- Lernschwierigkeiten
Wer hat den Workshop geleitet?
Die Leiterinnen bei diesem Workshop waren Jovana Komnenic und
Kate Brehme.
Jovana Komnenic erklärt Kunst für blinde und sehende Personen.
Außerdem ist sie selbst als Künstlerin tätig.
Kate Brehme ist Expertin für die Planung von Ausstellungen.
Sie weiß besonders viel darüber, wie Ausstellungen für
Personen mit Behinderungen geplant werden müssen.
Wie ist dieser Workshop abgelaufen?
Am 1. Tag des Workshops hat Sozialpädagogin Antje Barten
einen Vortrag zur Einführung in das Thema Behinderung gehalten.
Dabei hat sie erklärt: Nicht die Personen selbst sind behindert.
Sondern die Umgebung behindert diese Personen dabei,
wenn sie ein Angebot nutzen möchten oder eine Information brauchen.
Zum Beispiel, weil es überall viele Hindernisse gibt für Personen
mit Behinderungen:
- Treppen-Stufen für eine Personen mit Rollstuhl
- Schrift und Schilder, die blinde Personen nicht lesen können
- schwer verständliche Informationen für Personen
mit Lernschwierigkeiten
Als nächstes haben dann alle einen Rundgang durch das Museum gemacht
und besonders darauf geachtet, wo es Hindernisse gibt.
Zum Beispiel zu kleine Schrift bei Informationen.
Oder: Wo sind Schilder so hoch aufgehängt,
dass Personen im Rollstuhl sie nicht lesen können.
Am 2. Tag des Workshops haben die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer einen Versuch gemacht.
Eine Anleiterin hat ihnen einen Gegenstand beschrieben,
den man nicht sehen konnte.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten diesen Gegenstand
dann zeichnen.
Dann hat eine andere Person die Zeichnung beschrieben.
Nach dieser Beschreibung hat dann die nächste Person in der Reihe
wieder ein Bild gezeichnet.
Das ging ein paar Mal so weiter:
Wie, wenn man das Spiel „Stille Post“ mit Zeichnungen spielt.
Am Ende haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Zeichnungen verglichen
mit dem Gegenstand,
um den es am Anfang gegangen ist.
Am Nachmittag haben Expertinnen erklärt,
wie man Bild-Beschreibungen für blinde Personen macht.
Und wie daraus ein spannendes Hörspiel werden kann.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben außerdem gelernt,
wie man Bilder zum Ertasten für blinde Personen macht.
David Permantier und andere Mitglieder von der Kunst-Werkstatt
der Lebenshilfe haben erklärt, was für Personen mit Lernschwierigkeiten
bei einem Museums-Besuch wichtig ist.
Alle haben dann gemeinsam über ein Bild gesprochen,
das ein Mitglied der Kunst-Werkstatt gemalt hatte.
Eva Sturm ist Professorin für Kunst-Vermittlung
an der Universität Oldenburg.
Sie hat am 3. Tag des Workshops einen Vortrag darüber gehalten,
was beim Betrachten von Kunst-Werken bei einer Person passiert.
Die Person erlebt Gefühle und hat vielleicht neue Ideen.
Aber das ist bei jeder Person unterschiedlich.
Deshalb ist das Betrachten von Kunst-Werken so spannend:
Man weiß nicht,
welches Ergebnis dabei herauskommt.
Nach diesem Vortrag haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Arbeits-Gruppen gebildet.
Gemeinsam haben sie Kunst-Werke in der Ausstellung betrachtet.
Dabei haben sie diese Fragen beantwortet:
- Was sieht man auf einem bestimmten Bild?
- Wie passt das zu den Lebens-Erfahrungen der Person,
die das Bild betrachtet? - Was weiß ich darüber, wie das Kunst-Werk entstanden ist?
- Wie verstehe ich das Kunst-Werk?
In den Arbeits-Gruppen ist klar geworden:
Jede Person hat ein anderes Wissen und andere Erfahrungen.
Deshalb betrachtet jeder Kunst-Werke anders.
Diese Vielfalt von Meinungen macht das gemeinsame Nachdenken
über Kunst interessant.
Zusammen erfährt man dann mehr über ein bestimmtes Kunst-Werk
als allein.
Ein paar Monate später gab es dann den 4. Tag des Workshops.
An diesem Tag ging es um die Frage:
Wie muss man eine Ausstellung gestalten,
damit es möglichst keine Hindernisse gibt
für Personen mit Behinderungen?
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich dafür in die Situation von Menschen
mit verschiedenen Behinderungen hineinversetzt.
Sie haben selbst ausprobiert,
welche Hindernisse es im Museum gibt.
Dafür haben sie zum Beispiel:
- Augen-Masken aufgesetzt, damit sie nichts mehr sehen
- Rollstühle benutzt und sich damit im Museum bewegt
Dann haben sie gemeinsam nach Lösungen gesucht,
wie bestehende Hindernisse im Museum abgebaut werden können.
Zum Beispiel: Man kann im Museum einen Rollstuhl ausleihen,
bei dem man die Höhe verstellen kann.
Damit Rollstuhl-Nutzerinnen und -Nutzer auch Kunst-Werke
ansehen können,
die hoch aufgehängt sind.
Oder das Museum bietet Tast-Modelle von einzelnen Kunst-Werken an.
Damit blinde Personen die Kunst-Werke besser verstehen können.
Außerdem gab es einen Vortrag über die Frage:
Wie können Gegenstände und Räume so gestaltet werden,
dass möglichst alle Personen sie gut nutzen können.
Der Fachbegriff in englischer Sprache dafür ist:
design for all.
Welches Ergebnis hatte dieser Workshop?
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben untersucht,
welche Hindernisse es im Museum gibt für Personen mit Behinderung.
Und sie haben bei verschiedenen Rundgängen durch das Museum Ideen gesammelt,
wie man diese Hindernisse in Zukunft abbauen kann.
MP3
Audiodatei zum Text MP3 (9950 kB)
Audiodatei zum Original-Ton 1 MP3 (384 kB)
Original-Ton: TeilnehmerInnen einer Arbeitsgruppe diskutieren über verschiedene Möglichkeiten Vitrinen zugänglicher zu machen
Audiodatei zum Original-Ton 2 MP3 (7559 kB)
Original-Ton: TeilnehmerInnen diskutieren über Erlebnis und Kunstgenuss jenseits des Visuellen
Audiodatei zum Original-Ton 3 MP3 (6766 kB)
Original-Ton: TeilnehmerInnen diskutieren über die Nutzung von Datenbanken und SmartPhones als zusätzliche Informationsquellen für Menschen mit Behinderungen
Audiodatei zum Original-Ton 4 MP3 (11 196 kB)
Original-Ton: TeilnehmerInnen diskutieren über spezielle Probleme bei der Einrichtung von Vitrinen: Unterfahrbarkeit, Licht, angeschrägte Flächen
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Transkription zur Audiodatei 2, Original-Ton PDF (184 kB)
Transkription zur Audiodatei 3, Original-Ton PDF (178 kB)
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